Der European Court of Human Rights (ECHR) entschied kürzlich, dass die Bundesrepublik Deutschland den einvernehmlichen Beischlaf unter erwachsenen Verwandten weiterhin unter Strafe stellen darf. Ein 35-jähriger Deutscher, der eine Beziehung zu seiner Schwester unterhielt, hatte zuvor argumentiert, dass die Regelung sein Recht auf Privatsphäre einschränken würde. Im Gespräch mit den EUROPP-Redakteuren Chris Gilson und Julian Kirchherr erklärt Hans Christian Ströbele, Mitglied des Deutschen Bundestags, warum er dem Urteil des ECHRs nicht zustimmt.
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Frankreich, entschied nun, dass Deutschland dazu befugt ist, einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern zu verbieten. Wie stehen Sie zu diesem Urteil?
Das Urteil wird von vielen mißverstanden und ich halte es deshalb für problematisch. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Strafbarkeit von Beischlaf zwischen Verwandten nicht etwa gefordert oder befürwortet, sondern den europäischen Staaten lediglich in dieser Frage moralischer Maßstäbe, ob sie solches unter Strafe stellen oder nicht, einen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Den können wir nutzen, um die Strafbarkeit auch in Deutschland abzuschaffen.
Das Bundesverfassungsgericht in Deutschland (BVerfG) stellte in seinem Urteil zum Fall fest, dass “Inzest negativen Folgen für die Gesellschaft haben kann, etwa die Gefahr, dass die Kinder behindert sind“. Ist dieses Argument in Ihren Augen gewichtig?
Auch das Risiko gesundheitlicher Schäden bei Kindern, die aus einer solchen Beziehung hervorgehen können, kann die Strafbarkeit nicht rechtfertigen. Schließlich besteht auch sonst ein solches Risiko und zwar häufig ein viel höheres etwa bei Erbkrankheiten der Beziehungspartner oder bei Alkohol-, Dogen- oder Nikotinabhängigkeit der Mütter. Gleichwohl kommt niemand auf den Gedanken, den Beischlaf solcher Personen mit Kriminalstrafen zu ahnden. Das Beziehungspaar, von dem ein Gesundheitsrisiko ausgeht, sollte in jedem Fall verantwortlich mit der Frage umgehen, ob es zu einer Schwangerschaft kommen kann. Aber das strafrechtliche Verbot gehört da nicht hin. Es kann kein strafrechtlich zu schützendes Interesse eines Kindes geben, wegen eines Risikos der Schädigung nicht geboren zu werden
Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2007 unterstützen mehr als 75 Prozent der Deutschen das Inzestverbot. Warum ist das Thema ein solches Tabu?
Begründet wird das Tabu häufig damit, solche moralischen Verbrechen würden fast immer mit Mißbrauch und Abhängigkeit einhergehen. Verschwiegen wird, daß der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung vor sexuellem Mißbrauch und vor sexuellen Handlungen mit Abhängigen, etwa mit Schutzbefohlenen und Anvertrauten, durch mehrere andere Strafvorschriften mit hohen Freiheitsstrafen bedroht ist. Man mag aus moralischen oder religiösen Gründen solche Beziehungen ablehnen, aber nicht mit hohen Freiheitstrafen staatlich verfolgen. Kriminalstrafen sind fehl am Platze.
Deutschland, wie die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union, verbietet einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern. Glauben Sie, es sollte europaweit geltende Rechtsvorschriften zu dieser Thematik geben?
Es stimmt nicht, daß einvernehmliche sexuelle Handlungen stets strafbar sind Nur und ausschließlich der Vollzug des Beischlafs zwischen Geschwistern steht unter Strafe. Und zwar ausnahmslos, auch wenn mit Schutz oder durch sterilisierte vollzogen wird. Alle anderen sexuellen Handlungen und sexuellen Praktiken zwischen Geschwistern und anderen nahen Verwandten sind von der Strafvorschrift gar nicht betroffen. Sie sind also auch heute straflos. Das widersprüchlich und wenig bekannt.
In großen Ländern Europas wie Rußland und Spanien gibt es eine solche Rechtsvorschrift nicht. Und auch in Frankreich war sie schon vor 200 Jahren der Aufklärung und der Französischen Revolution abgeschafft worden.
In welchem Land in Europa gilt derzeit Gesetzgebung zu einvernehmlichen sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern, die vorbildlich ist aus Ihrer Sicht?
Keine Ahnung. Ich kenne die Rechtsvorschriften der einzelnen Länder nicht genau, deshalb kann ich keine nennen. Aber in Deutschland könnte diese Strafvorschrift des § 173 des Strafgesetzbuches einfach gestrichen werden. Das selbe ist mit der Strafbarkeit von Homosexualität und Ehebruch vor einigen Jahren geschehen, ob auch für diese Delikte in der Bibel die Todesstrafe verlangt wird.
Ich halte hohe Gefängnisstrafen wegen Beischlafs unter erwachsenen Verwandten für nicht mehr zeitgemäß. Sie sind mit einer geläuterten modernen Auffassung von Sexualität und Familie nicht vereinbar. Sie sind verfassungsrechtlich äußerst zweifelhaft.
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Hinweis: Dieser Artikel gibt die Meinung des Verfassers wieder, und weder die Meinung von EUROPP – European Politics and Policy noch die Meinung der London School of Economics.
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Zum Autor
Hans Christian Ströbele – Mitglied des Deutschen Bundestages
Hans Christian Ströbele ist Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Er war von 2002 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ströbele absolvierte ein Studium der Studium der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Freien Universität Berlin.